BreakpointScrollen bis zur Diagnose

Immer mehr Menschen denken, ihr eigenes Verhalten sei krankhaft. Und selbsternannte „Mental-Health-Coaches“ sind plötzlich einflussreicher als ausgebildete Therapeut:innen. Das aber hat weniger mit TikTok als mit unserer schlechten Gesundheitsversorgung zu tun. Und damit, was wir für krank erachten.

Eine Person, die vor grauem Hintergrund ihren Kopf in die Hände stützt
Besser nicht zu tief hinab scrollen. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Dev Asangbam

Du hast aus Versehen schon mal zwei Armbanduhren angezogen? Du hast vergessen, wo du deine Wasserflasche abgestellt hast? Oder du suchst dein Handy, obwohl du es in der Hand hältst? Dann: Achtung! Laut TikTok könnte es sein, dass du ADHS hast. Oder Autismus. Oder Depressionen. Oder eine andere psychische Störung, die sich im Alltag zu manifestieren scheint.

ADHS – das heißt, eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung – ist nicht nur eine medizinische Diagnose, sondern ist mittlerweile geradezu zum Online-Trendbegriff avanciert. Allein auf TikTok finden sich mehrere Millionen Beiträge mit dem entsprechenden Hashtag. Viele davon verniedlichen die Krankheit, schildern, wie die Symptome sie im Alltag ein wenig verschroben erscheinen lassen, oder sie erzählen witzige Anekdoten aus ihrem Leben mit einer Neurodivergenz.

Fast könnte man dabei den Eindruck gewinnen, Content Creators hätten aus einer ernstzunehmenden neurologischen Entwicklungsstörung eine Art Online-Persönlichkeitsmerkmal gemacht. Ein Video, in dem jemand chaotisch seinen Tag beschreibt? „Das bin ich!“ Ein Post, in dem jemand erklärt, dass er seine To-do-Listen vernachlässigt? „Das bin ich!“

Fast jedes dieser Videos schildert vermeintliche Symptome. Und fast jede:r von uns könnte sich darin wiedererkennen.

Diagnose per Like

Es ist ein schmaler Grat zwischen informativem Content und der gefährlichen Suggestion, man könne sich per Social Media ganz einfach selbst diagnostizieren.

Eine aktuelle Studie zeigt, dass fast 50 Prozent der ADHS-TikToks Symptome beschreiben, die eben nicht zu den Diagnosekriterien für ADHS zählen. Wenn aber ein Video suggeriert, dass völlig normale Konzentrationsschwierigkeiten oder gelegentliche Vergesslichkeit eindeutige Zeichen für ADHS sind, dann führt das zu einem Problem: Immer mehr Menschen denken, ihr eigenes Verhalten sei krankhaft.

Für die Studie haben Forschende junge Menschen befragt, die allesamt TikTok konsumieren. Mehr als ein Drittel der Teilnehmenden vermutet, dass sie von ADHS betroffen sind. Tatsächlich sind es im Durchschnitt jedoch nur zwei bis fünf Prozent der Bevölkerung, je nach Altersgruppe.

Die offenbar falsche Annahme, psychisch krank zu sein, verstärkt TikTok zusätzlich. Denn je mehr Menschen sich in einem Video wiedererkennen, desto häufiger liken, teilen und kommentieren sie es. Und der Algorithmus honoriert die Reichweite, nicht die Richtigkeit eines Videos.

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Wer weit genug die For-You-Page hinabscrollt, hat am Ende des Tages nicht nur ADHS, sondern vielleicht auch eine bipolare Störung oder eine seltene Angststörung. Und das alles, ohne jemals mit einer Ärztin gesprochen zu haben.

Mental-Health-Influencer: Mehr Likes, weniger Substanz

Und genau hier liegt dann das eigentliche Problem: Es gibt in Deutschland nur unzureichende psychologische Versorgungskapazitäten. Während die Zahl der Menschen, die von psychischen Krankheiten betroffen sind, immer weiter ansteigt, hat sich die Wartezeit auf einen Therapieplatz verdoppelt. Bis zu sechs Monate lang warteten Betroffene im Jahr 2022 in Deutschland auf die erste Therapiestunde. Etwa doppelt so lange wie zwei Jahre zuvor.

Dieser Missstand befördert zweifelhafte Diagnosekriterien per Swipe. Denn wo medizinische Versorgung fehlt, bleibt Betroffenen allzu oft keine andere Möglichkeit als die Selbstdiagnose.

Das ist nicht in jedem Fall schlecht. Positiv ist etwa die Aufmerksamkeit, die das Thema mentale Gesundheit durch immer mehr Mental-Health-Content erlangt. Wenn Betroffene in (sozialen) Medien präsent sind, werden psychische Erkrankungen enttabuisiert. Allerdings kann diese positive Wirkung auch ins Gegenteil umschlagen, wenn das gesteigerte Bewusstsein in der Bevölkerung nicht mit mehr Versorgungskapazitäten einhergeht.

In diesem Fall setzen sich dann mitunter auch zweifelhafte „Lösungen“ für die selbstdiagnostizierten Störungen durch. Die vermeintlichen Heilsangebote reichen von ominösen Supplements über zwielichtige Coaching-Programme bis zu überteuerten Luxusurlauben.

Echte Versorgung statt TikTok-Therapie

Und dann sind selbsternannte „Mental-Health-Coaches“ plötzlich einflussreicher als ausgebildete Therapeut:innen. Menschen mit ernsthaften psychischen Erkrankungen bleiben dabei jedoch auf der Strecke. Denn: Wer glaubt, ADHS mit ein paar Lifehacks in den Griff zu bekommen, wird bitter enttäuscht. Eine Neurodivergenz lässt sich nicht mit Checklisten oder Pomodoro-Techniken therapieren.

Umso wichtiger ist, dass wir mehr Versorgungsmöglichkeiten für die Betroffenen psychischer Krankheiten und Divergenzen schaffen. Und gleichzeitig sollen wir auch anerkennen, dass nicht jede Verhaltensweise ein Symptom und nicht jede Charaktereigenschaft gleich pathologisch ist. Manchmal sind Menschen einfach nur Menschen. Mit ganz unterschiedlichen Eigenschaften und Erfahrungen. Und ganz ohne Hashtag.

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17 Ergänzungen

  1. Während eines Medizin Studiums, werden viele von einer „Studentenkrankheit“ verfolgt.
    Man nimmt unbewusst Symptome an sich selber wahr, die genaugenommen keine sind oder gar nichts gemein mit den Fällen aus den Büchern haben.

    Darum ist es wichtig diese Erkenntnis früh zu erlangen und zu verstehen.

  2. Der Konformitätsdruck unserer spät kapitalistischen Gesellschaften nimmt doch immer weiter zu. Am Arbeitsmarkt entscheiden Personaler nach oberflächlichen Kriterien, Auf Tinder und Social Media werden Menschen nach oberflächlichen bis narzistischen Kriterien bewertet. Wer dem Bewertungsdruck nicht standhält bleibt einsam und chancenlos zurück.

    Wundert es denn da das die Menschen psychisch krank werden ? Ventile zum Druck ablassen gibt es ja auch keine mehr. Keine Gegenbewegungen wie Punk… Hippies etc. Wohin man blickt nur trockener grauer Konformismus. Davon krank zu werden ist doch Ausdruck einer normalen und funktionierenden Psyche denn alles andere wäre abnormal.

    1. Stimme zu, wenn es z.B. um Angst und Depressionen geht.

      Aber in der Studie geht es um ADHS, und ADHS bekommt man in erster Linie vererbt und nicht vom Social Media Konsum.

      1. Falsch. Erkunden Sie sich bitte über Adult-Onset / Late-Onset ADHD. Einen kurzen und kritischen Artikel dazu gibt es von Prof. Dr. med. Andreas Reif vom ADHS Deutschland e. V.

  3. So ein nerviger moralinsaurer Take, den man nach der Studie aktuell überall zu lesen bekommt (eigentlich unter Carla Siepmanns Niveau). Gähn.

    Ja, ADHS geht nicht durch Pomodoro weg, und manche Influencer nerven oder erzählen Mist.

    Aber:
    1. Diese allgemein abwertende Haltung ggü Mental Health Influencern schert alle über einen Kamm, die online über ihre Erfahrungen sprechen. Und trägt dazu bei, dass neurodivergenten Personen ihre Diagnose nicht geglaubt und mit grundsätzlichem Misstrauen begegnet wird.

    2. Mental Health Influencer machen teilweise sehr gute Aufklärung, teilweise berichten sie von eigenen Erfahrungen. Beides ist legitim. Man kann nicht von ihnen erwarten, dass sie nur über die Lebenserfahrungen sprechen dürfen, die in den aktuellen Diagnosekriterien stehen. Die Diagnosekriterien sind immer im Wandel und bilden nicht zwingend die vollständige Erfahrung und Innensicht einer Störung oder Neurodivergenz ab. Gerade bei ADHS gibt es in der Fachwelt durchaus Bestrebungen, emotionale Dysregulation mit in die Kriterien aufzunehmen (siehe v.a. Barkley mit seiner ADHS-Theorie dyregulierter Exekutivfunktionen). Wenn so viele ADHS Influencer also von emotionaler Dysregulation berichten (wie es die Studie moniert), muss es also nicht ein Zeichen dessen sein, dass SIE falsch liegen (und in Wahrheit durch die Bank Borderliner sind/ Scharlatane, die medizinische Falschinfos verbreiten). Sondern es kann auch sein, dass die ADHS Diagnose-Kriterien angepasst und um die reale ADHS Erfahrungsdimension emot. Dysregulation ergänzt werden sollten.

  4. Ich habe die sog. „Social Media“ seit es sie gibt konsequent gemieden wie die Pest.
    Doch als die nicht-kommerzielle Variante Mastodon auch hier auf netzpolitik.org gepriesen wurde wie Sauerbier, dachte ich mir, das siehst du dir mal an. Das war vor ca. einem Jahr.

    Was ich dort gesehen habe, hat mich – um es freundlich zu formulieren – wenig erfreut.
    Schon nach ein paar Minuten war mir klar, das ist ein Zeitfresser, der mir nichts bringt.
    Um ohne Suchfunktion etwas inhaltlich interessantes zu finden musste ich zig(!) mal scrollen um etwas zu finden, was ich dann lesen wollte. Ich fragte mich, wer denn diesen ganzen Schrott tatsächlich lesen will, denn dort sind auch Inhalte zu finden, die ich nicht mit meinem Gehirn verarbeiten möchte. Auch war mir schnell klar, dass da automatisch Mitteilungen eingespielt werden, was ich als zutiefst störend empfand.

    Ich habe mich gefragt, welche Bedürfnisse Menschen haben, in diesen Medien aktiv zu posten, und welche Menschen das eher passiv rezipieren. Mit beiden Gruppen möchte ich eher nichts zu tun haben, mal abgesehen von Wissenschaftler:innen, die auf ihre Papers hinweisen, aber deren Arbeit finde ich auch mit anderen Mitteln.

    TSCRL;DR scrollt mal schön ohne mich weiter!

    Schön, dass ich in alle den Jahren nichts, aber auch gar nichts versäumt habe.

    1. Und Mastodon ist noch eines der netten und ordentlichen Plattformen. Sozusagen der Ponyhof unter den Social Medias. Im vergleich dazu ist Facebook ein Müllhaufen und X eine stinkende Jauchegrube. Kaum zu glauben das es zahlreiche Menschen gibt sich sich täglich stundenlang sowas rein ziehen.

      1. > Kaum zu glauben das es gibt sich sich täglich stundenlang sowas rein ziehen.

        Wobei man sich fragen kann, was diese „zahlreichen Menschen“ sonst tun würden, wenn sie ihre Lebenszeit nicht dort vergeuden würden?
        Hält es diese Menschen eher davon ab, in dieser Zeit noch größere Dummheiten anzustellen, oder würden sie etwas für sie sinnvolleres tun (können)?

        So oder so, mit diesen Mitteln können Menschen von der Straße ferngehalten werden, und Einfluss auf ihr Denken und damit auf ihr Tun und Handeln genommen werden. Ausspielende Akteure sind mit solchen Verhältnissen sicherlich sehr zufrieden, und die Menschen merken nicht mal, wie sie fremdgesteuert emotionalisiert, und am Nasenring durch die Manege gezogen werden.

    2. Dem stimme ich voll und ganz zu. Seine psychische Gesundheit bewahrt man sich, in dem man „soschial midia“ (warum sagt man eigentlich nicht „soziale Medien“) eben NICHT nutzt!

      Ganz abgesehen davon ist das geistige und Diskussionsniveau dermaßen grottenschlecht, dass es einem grottenschlecht wird (es mag Ausnahmen geben, aber in meiner Testphase damals habe ich sie nicht gefunden).

  5. > mehr Versorgungsmöglichkeiten für die Betroffenen psychischer Krankheiten und Divergenzen

    Ist ja ganz nett, um dem Problem hinterher zu wischen. Aber bei allem Wissen über Gefahren für die (mentale) Gesundheit wäre an der Zeit mal vor die Lage zu kommen: Durch Prävention!

    Prävention erspart vielen Menschen Symptomatiken wie sie hier wissenschaftlich beschrieben werden:

    ICD-11-Based Assessment of Social Media Use Disorder in Adolescents: Development and Validation of the Social Media Use Disorder Scale for Adolescents, 2021
    https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC8100192/

    A Four-Item Questionnaire to Measure Problematic Social Media Use: The Social Media Disorder Test, 2023
    https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC10741071/

    1. Prävention von Angststörungen und Depressionen, gerne. Das brauchen wir wirklich dringend. (Gerade bei neurodivergenten Personen wäre das dringend indiziert, v.a. indem sensorische und soziale Barrieren abgebaut werden sollten.)

      Aber in der Studie gings um ADHS. Und Prävention von ADHS ist schwer vorstellbar, da es eine Erblichkeit von ca 80 Prozent hat. Also 80% der Varianz in ADHS Merkmalen sind genetisch bedingt. (Bei Autismus ist es sogar knapp 95%). Wie soll man da bitte präventiv tätig werden?

      Die Forderung, Behinderungen (soziales Modell!) wie ADHS und Autismus zu verhindern, sind sozialdarwinistisch und behindertenfeindlich. Sie führt schnell zu menschenverachtenden Praktiken wie Eugenik und Zwangssterilisation.

      Ich glaube, das ist vielen nicht bewusst. Z.B. weil sie denken, Autismus und ADHS seien „emotionale“ Störungen, oder seien „tragische Fälle“. Es sind von der erst ab Anfang des 20. Jh. definierten statistischen Norm abweichende neurologische Konfigurationen, das ist alles.

      1. > Prävention von Angststörungen und Depressionen, gerne. … Aber in der Studie gings um ADHS.

        Schwer vorstellbar, dass Ihnen Komorbidität(en) noch nicht begegnet sind. Schön, wenn Sie sich auch noch dazu einlassen könnten.

  6. Die Einordnung von ADHS als „Krankheit“ und „Entwicklungsstörung“ ist wissenschaftlich überholt und ableistisch, also diskriminierend.

      1. Zurecht verwendet man im Fach den Störungsbegriff (Störung spezifischer psychischer Funktionen) und nicht den Krankheitsbegriff. Und dass ICD-10 wissenschaftlich gesehen veraltet ist, auch bezogen auf ADHS, dürfte Ihnen als Psychologin auch bewusst sein

    1. Es ist offiziell in der Diagnostik nun einmal der Grund für eine oder mehrere Entwicklungsstörungen und auch als Krankheit diagnostiziert.
      Viele Kinder haben mit Adhs einen Pflegegrad und einen GdB. Wie soll das gehen ohne Diagnoseschlüssel?
      Wer betroffen ist, Folgeerkrankungen hat und gar kein selbstständiges Leben führen kann, fühlt sich alles, aber nicht gesund und gleichgestellt.
      Zumal Adhs mit vielen weiteren Erkrankungen Hand in Hand geht und gemeinsam auftritt, wie einige Autoimmunerkrankungen. Davon, es sich schön zu reden, haben Betroffene nichts.
      Adhs hat nun mal belegte gesundheitliche körperliche und psychische Folgen und eine deutlich verkürzte Lebenserwartung sowie einen veränderten Stoffwechsel.
      Erbkrankheiten sind eben genau das. Auch wenn man sich dessen als junger Mensch noch nicht bewußt sein mag. Mit zunehmender Verantwortung wird aus den „quirky traits“ eine Behinderung, die viele Lebenswege versperrt und Türen schliesst.
      Diese Verharmlosungen a la „Adhs ist keine Krankheit“ entsprechen nicht der Realität Betroffener – und Therapeuten Mediziner wissen dies auch aus dem Alltag mit ihren Patienten.
      Es ist eine Neurodivergenz und für mich eine starke Behinderung in meinem Alltag. Und die Folgeerkrankungen müssen behandelt werden. Sie sind alles „echte“ Krankheiten.

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